KULTURHAUPTSTADT EUROPAS RUHR.2010 – ZWISCHEN KUNST UND URBANITÄT METROPOLE RUHR – HERAUSFORDERUNG UND VISION 53 Städte stellen sich als Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 der Herausforderung, eine Vision in die Wirklichkeit zu transferieren: das Ruhrgebiet als Metropole neuen Typs zu formulieren. Mit dieser programmatischen Ausrichtung hat sich die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, das es gemeinsam mit den Städten der Region einzulösen gilt. Werfen wir einen Blick auf die klassischen Metropolen Europas. Sie zeichnen sich aus durch Größe, kulturelle Vielfalt sowie Weltoffenheit und sind in allen Fällen über Jahrhunderte hin gewachsen. Ihre bauhistorischen Landmarken verschiedener Epochen erzählen ihre wechselhaften Geschichten und verleihen ihnen so ihre jeweils unverwechselbare Ausstrahlung und Identität. Metropolen verfügen in der Regel über ein starkes Zentrum mit atmosphärischer Dichte in belebten urbanen Vierteln, die jederzeit über ein weit verzweigtes Netz von Bus, Bahn und Metro zu erreichen sind. Ganz automatisch schieben sich Bilder idealtypischer europäischer Metropolen vor das innere Auge: belebte Ramblas in Barcelona, quirlige Szene- Viertel in London, Kreuzberger Kieze mit Künstlerateliers und Feinkostläden oder gemütliche Straßencafés im altehrwürdigen Paris. Das gewachsene Stadtgefüge bietet in diesen Metropolen mit seinen Architekturen, Straßen, Vierteln, Parks und Infrastrukturen den Nährboden, auf dem sich urbanes Leben entwickelt. Es ist das Zusammenspiel von Stadtraum und den Benutzern der Stadt, das die lebendigen Bilder metropolitanen Lebens ausmacht. Eine Grundvoraussetzung, um über eine neue Metropole Ruhr nachdenken zu können, ist es, von diesen gelernten Bildern Abstand zu nehmen. Das Ruhrgebiet wird nicht zum zweiten Paris, London oder Berlin, nur weil es sich ein Kreis querdenkender Kreativer vorgenommen hat. Es geht um nicht weniger als die Etablierung einer Metropole neuen Typs, die sich unter zeitgenössischen Fragestellungen aus den vorhandenen Strukturen einer fragmentierten, urbanisierten Stadtlandschaft heraus entwickelt und Potenziale für die Zukunft formuliert. Das Ruhrgebiet basiert auf einem zweckbestimmten Städteverbund, der sich bereits in den 1920er Jahren als Siedlungsverband Ruhrkohlebezirk zusammenfand und noch heute als Regionalverband Ruhr existiert. Der einzige gemeinsame Nenner ist in den Kohlevorkommen tief unter den Städten des Reviers zu finden. Das oberirdische Erscheinungsbild reicht von einer ländlichen Szenerie im östlichen Ruhrgebiet, vor- und frühindustrieller Landschaft im Süden, dem im Rheintal liegenden Westen und ein durch die Schwerindustrie komplett überformtes mittleres und nördliches Ruhrgebiet an Hellweg und Emscher. Wir sind konfrontiert mit einem polyzentrisch angelegten Städtegeflecht mit 5,3 Millionen Einwohnern, einer Fläche von 4435 Quadratkilometern, mit einer Ausdehnung von mehr als 100 Kilometern Länge in Ost-West- und 60 Kilometern in Nord-Süd- Richtung. Das Gesamtbild wird bestimmt durch eine Stadtlandschaft, die mit der Industriellen Revolution in nur knapp 150 Jahren entstanden ist. Die Internationale Bauausstellung Emscher Park setzte in ihrer zehnjährigen Arbeit (1989–1999) einen Prozess der Transformation in Gang, der mit dem Vorhandenen spielt und die Industriegeschichte als Ausgangspunkt einer Umwidmung der Region genommen hat. Die Bilder des illuminierten Hüttenwerkes in Meiderich, der zum Ruhr-Museum umgebauten Kohlenwäsche auf dem Weltkulturerbe Zollverein oder der durch die Triennale Ruhr großartig bespielten Jahrhunderthalle Bochum sind mittlerweile um die Welt gegangen. Sie verdrängen langsam die Bilder von Kohle und Staub, die sich im kollektiven Gedächtnis der Menschen eingebrannt haben. Es sind jedoch nur erste punktuelle Vorboten einer sich wandelnden Region. Die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 hat sich vorgenommen, die überkommenen Vorstellungen über das Ruhrgebiet komplett durch unkonventionelle und überraschende Bilder einer Metropole neuen Typs zu ersetzen. DIE GROSSEN INFRASTRUKTUREN – MIT KUNST GEDACHT GANZ NEU Die vergehende Industrielandschaft an Emscher und Ruhr ist geprägt durch eine alternde und schrumpfende Gesellschaft mit Gebäuden und Infrastrukturen im Überfluss. So wird sehr schnell klar, dass die neue Metropole Ruhr nicht mehr gebaut, sondern aus dem Vorhandenen heraus gestaltet werden muss. Ein Abwiegen zwischen klug geplantem Abriss und Umwidmung wird die gestaltenden Disziplinen in den kommenden Jahrzehnten im Ruhrgebiet beschäftigen. Dabei ist zu bedenken, dass das Phänomen der Schrumpfung in der Planungstheorie nach wie vor eine kaum bekannte Größe ist und die klassischen Instrumente der Planung auf Wachstum angelegt sind. Bei einer zukunftsgewandten Betrachtung einer schrumpfenden Region geht es demnach um die Neujustierung von Planung mit anderen Akzenten, ohne dass man heute schon beantworten kann, wie es in Zukunft aussehen wird. Klar ist, wer Altes loslassen und Neues denken will braucht Mut. Diesen Mut hat die IBA Emscher Park mit der Strategie „Wandel ohne Wachstum“ bewiesen, die heute das Fundament für die programmatische Ausrichtung der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 im Programmbereich „Stadt der Möglichkeiten“ bildet. In ihr vereinen sich die Disziplinen Architektur, Städtebau, Landschaftsgestaltung und Bildende Kunst, eine Verbindung, die schon im Ansatz verspricht, überraschende Bilder zu produzieren und die starren, fachlich eingeengten Vorstellungen aufzubrechen. Die künstlerischen Direktoren und ihre Teams stellten sich ganz im Sinne der interdisziplinären Diversität gemeinsam mit international renommierten Kuratoren, Künstlern, Architekten, Planern und Designern der Herausforderung, eine neue Sichtbarkeit der etwas anderen Metropole aufzuspüren. Dabei zeichnete sich schon zu Beginn der Planungsphase ab, dass die großen Infrastrukturen der Region die bisher unerkannte Möglichkeit in sich tragen, als die verbindenden Achsen das Gesicht der Metropole Ruhr von morgen im Spannungsfeld zwischen Kunst und Urbanität auszubilden. Die Straßen, Kanäle, Schienen und Flüsse waren und sind noch allesamt ausgelegt auf den reibungslosen und schnellen Transport industrieller Güter und Abwässer sowie die direkte, autogerechte Verbindung der um die Industrien gewachsenen Agglomerationen. Bei 53 Einzelstädten auf einer Fläche von rund 4500 Quadratkilometern sind stets große Entfernungen zu überwinden; man muss sich ständig bewegen, um die Metropole Ruhr in ihrer Vielfalt zu benutzen. Die bisher als störend und zäsierend wahrgenommenen Infrastrukturen etablieren sich unter den gegenwärtigen Vorzeichen als die Verbindungsketten mit ungewöhnlicher Silhouette und Bühnen künftiger Mobilität in der Neuen Metropole Ruhr. Hier setzen die großen bildgebenden Projekte der „Stadt der Möglichkeiten“ an. Im Emschertal liegen dicht an dicht drei prägnante Infrastrukturen: der Emscherschnellweg, der zukünftig als gestaltete „Parkautobahn A42“ die zentrale Zugangsachse in den Emscher Landschaftspark bildet, der immer weniger von der Industrie benötigte Rhein-Herne-Kanal, der als „KulturKanal“ über die Mittel der Kultur ins städtische Leben zurückkehrt und die Emscher als größte Baustelle der Zukunft, die über die biennal angelegte „EMSCHERKUNST.2010“ ihre Sichtbarkeit erfährt. Die Hellwegzone bildet neben dem Emschertal eine weitere prägende Ost-West-Passage im mittleren Ruhrgebiet. Dem Weg der mittelalterlichen Handelsstraße von Nowgorod bis Brügge folgend durchschneidet der viel befahrene Ruhrschnellweg A40 die Neue Metropole Ruhr, die das wohl am dichtesten ausgeprägte Autobahnnetz Deutschlands ihr Eigen nennt. Große Mobilitätsschneisen, die in Zeiten entstanden sind, als die autogerechte Stadt die Maxime fortschrittlichen Wandels darstellte. Das Projekt „B1|A40 Die Schönheit der großen Straße“ lud Künstler, Designer und Architekten ein, diesen linearen Stadtraum zu erforschen, verborgene Qualitäten aufzudecken, Verbindungen in die flankierenden Lebenswelten zu suchen und Experimente im Umgang mit einer nachhaltigen, ästhetisch motivierten Gestaltung dieser Infrastruktur zu wagen. Es wurden neue Formen urbaner Interaktion und subversiver Strategien in einer temporären Ausstellung an sechs Orten mit 22 Projekten entlang der Bundesautobahn A40 freigelegt. Auf der Reise vom Kreuz Kaiserberg in Duisburg bis zur Stadtkrone Dortmund entstanden, kuratiert von Markus Ambach, temporäre Werke von international renommierten Künstlern, die sich über eine intensive künstlerische Recherche mit der Eigenart des Stadtraums A40 auseinandersetzten. Allen Werken war gemein, dass sie die ausgewählten Orte auf ihre gegenwärtige Bedeutung kritisch hinterfragten und die Aneignung und Deutung der Räume durch die Nutzer und Akteure vor Ort in den Mittelpunkt der künstlerischen Betrachtung stellten. Entstanden ist für einen begrenzten Zeitraum ein ungewöhnlicher Kunstparcours, der vom Alltag inspiriert schien, ohne das Gewöhnliche als banal zu begreifen, und unsichtbar-sichtbare Schichten urbanen Lebens aufdeckte. Die künstlerischen Arbeiten verstanden sich als sichtbarer Vorgriff auf eine langfristige Umwidmung der Bundesautobahn zu einer im Masterplan A40 bereits beschriebenen metropolitanen Verbindungskette. Der Straßenraum selbst erhielt mit den Textbrücken des Planerteams orange.edge und der illuminierten Autobahnkirche in Bochum-Hamme erste gestaltete Bausteine des unter den Kommunen und Eigentümern der Straße verabschiedeten Gestalthandbuches A40|B1. Der Regionale Masterplan A40|B1 und das Gestalthandbuch A40|B1 sind beide planungsrechtlich verbindlich für die Zukunft. „B1|A40 Die Schönheit der großen Straße“ ist somit eine eigenwillige Vision, die durch den kulturellen Kraftakt in 2010 Realität wurde und weit in die Zukunft weist. Ein Modellprojekt für Europa, ganz im Sinne der Maßstäbe, die die Kulturhauptstadt von Beginn an gesetzt hat. KULTURHAUPTSTADT EUROPAS – AUSNAHMEZUSTAND MIT ZUKUNFT Die Kulturhauptstadt Europas feiert ihren 25. Geburtstag und blickt auf eine spannende Entwicklung vom Kulturfestival zum Instrument nachhaltiger Kultur- und Wirtschaftsförderung zurück. Die RUHR.2010 nutzt den Titel Kulturhauptstadt Europas als Motor nachhaltiger Transformation einer vergehenden Industrielandschaft hin zu einer global verorteten, dynamischen Kulturlandschaft. Dabei genießt sie das Privileg befristeter Sonderkonditionen, eine Art kultureller Ausnahmezustand mit Frei- und Experimentierräumen für modellhafte Lösungen und Impulsgeber für den Alltag. Über 40 Projekte konnten in den Themenfeldern Bildende Kunst, Architektur, Stadtentwicklung und Landschaftsarchitektur unter den Überschriften „Metropole gestalten“ und „Bilder entdecken“ im Rahmen dieses Ausnahmezustands qualifiziert und umgesetzt werden. Entgegen der klassischen Strategien der Stadtentwicklung, die in der Regel reaktiv, stabilisierend und kompensatorisch aufgestellt sind, wurden mit den Projekten der „Stadt der Möglichkeiten“ aktiv Zukunftsbilder entworfen. Die 53 Städte mussten bereits in der Planungsphase zum Kulturhauptstadtjahr ein hohes Maß an Selbstreflexion an den Tag legen, um in der regionalen Zusammenarbeit als Netzwerk spezialisierter Städte in der Summe wettbewerbsfähig zu sein. So haben sich die Anrainer-Kommunen bei den genannten Projekten „KulturKanal“, „Parkautobahn“ und „B1|A40 Die Schönheit der großen Straße“ zusammengetan, um im regionalen Schulterschluss auch organisatorische Zeichen zu setzen. Je eine Kommune übernahm die Federführung stellvertretend für die Projektbeteiligten. In diesem Vorgehen sind erste Ansätze erkennbar, wie die RUHR.2010 das Jahr der Kulturhauptstadt Europas als Ausgangspunkt für ein tief greifendes, allumfassendes Veränderungsdenken nutzt, das weit über das Jahr 2010 hinausreicht. Das Projekt „B1|A40 Die Schönheit der großen Straße“ konnte nur durch die Innovations- und Risikobereitschaft der Projektbeteiligten, gepaart mit dem Mut, unbekanntes Terrain zu erkunden, verwirklicht werden. Die Landesregierung NRW, die Kommunen und der Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen (Straßen. NRW) haben mit Unterstützung durch den Bund alle zusammen die Hürden eines anderen Planungsverständnisses gemeinsam genommen. Der Paradigmenwechsel in der Verkehrssicherheitsplanung, der besagt, dass gezielt gesetzte Gestaltungen an der Autobahn die Wachsamkeit des Autofahrers erhöhen und nicht etwa als Ablenkung den Verkehr stören, konnte so erstmalig in eine erlebbare Form gegossen werden. Die Kulturhauptstadt Europas, die sich als Anlass und Motor der Projektidee „B1|A40“ begreift, verschaffte dem planerischen Experiment über eine groß angelegte Imagekampagne die internationale Plattform. Nun gilt es, diese Denkweise in die Zukunft zu übertragen, diese geübte Planungskultur zwischen Kunst und Urbanität mit perspektivischen Handlungsstrategien bis 2030 zu formulieren. Die temporären Kunstentwürfe sollten Anlass sein, die starren Strukturen von Masterplan A40|B1 und Regionalem Gestalthandbuch A40|B1 für multidisziplinäre Prozesse zu öffnen. Hier liegt die Chance verborgen, zeitgemäße und überraschende Antworten auf die Fragen von morgen zu finden, die der Neuen Metropole Ruhr auf lange Sicht eine einzigartige Identität verleihen. Die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 hat ein starkes Bild der Neuen Metropole Ruhr in die Welt hinausgetragen, das heute immer noch Herausforderung und Vision und längst noch nicht Realität geworden ist. Nur im regionalen Zusammenhalt kann sich das Bild der Neuen Metropole Ruhr verfestigen und Zukunftsfähigkeit beweisen. Die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt, dass die erreichten interkommunalen Initiativen einer steten regional agierenden Moderation und inhaltlichen Motivation bedürfen, um nicht zurück auf die Ebene des Kirchturmdenkens zu verfallen. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Region dazu gelernt hat und „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ im alltäglichen Handeln mit Leben füllt. Mit Blick auf Europa hat die Neue Metropole Ruhr die Chance, eine eigene dialogische und zukunftsorientierte Handlungsstrategie zu etablieren, die auch als Vorbild für andere Metropolregionen dienen könnte.